Ein Tag, den ich nie mehr vergessen werde

Der Feierabend

Heute ist Montag, der 7. Februar 2022. Ich hatte einen guten, aber strengen Arbeitstag und konnte einiges auf meiner To-Do-Liste abarbeiten, was mir ein gutes Gefühl gibt. Die Zeit verflog nur so und obwohl ich um16.00 Uhr Feierabend gehabt hätte, beantworte ich noch ein paar E-Mails. Eine unserer Bewohnerinnen hat seit heute einige Beschwerden, doch nach Rücksprache mit meiner Arbeitskollegin entscheiden wir uns, den Arzt noch nicht aufzubieten. Für mich ist es wichtig darüber Bescheid zu wissen, da ich bis morgen früh Pikettdienst habe. Somit verlasse ich um 17.15 Uhr, gut informiert, die Sonnhalde. Wie immer bin ich mit dem Fahrrad unterwegs und mache mich daran den Aufstieg, Richtung Gymnasium, zu erklimmen. Mein Rad macht seit einigen Tagen seltsame knirschende Geräusche und ich entschliesse mich, es morgen gleich beim Fahrradmechaniker anzumelden.

Während ich in die Pedale trete, denke ich an den heutigen Abend. Ich bin mit einer Freundin zum Essen verabredet. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und ich freue mich darauf mit ihr zu quatschen. Mir kommt in den Sinn, dass ich die zu kleinen Kleider meiner Tochter noch raussuchen muss, damit ich sie ihr für ihre zwei Töchter mitgeben kann.

Endlich bin ich oben beim Gymer angekommen und fahre durch das schöne Pärkli, doch etwas scheint nicht wie sonst. In der Mitte des Parks, unweit des Brunnens, auf der rechten Seite des Fussweges, liegt etwas. Es sieht aus, als lägen Kleider am Boden. Ich sehe mich um, doch da ist niemand. In meinem Innern spüre ich, dass etwas nicht in Ordnung ist und ich bemerke, dass es sich hier nicht nur um Kleidung handelt, sondern auch zwei Schuhe zu sehen sind. Es ist ein Mensch, der hier liegt! Ich fahre näher und spüre im selben Augenblick, dass ich eigentlich gar nicht hinsehen und einfach weiterfahren möchte. Ich habe Angst vor dem, was mich erwartet, was sich bei mir für einen kurzen Moment in Fluchtgedanken äussert. Ist es vielleicht ein Betrunkener oder ein Junkie? Ich kann mir nicht erkläre, weshalb ich, als sozialer und offener Mensch, solche Vorurteile und sogar Fluchtgedanken habe. Wahrscheinlich ist dies ein Schutzmechanismus meines Körpers. Alle diese Gedanken kreisen nur für wenige Sekunden in meinem Kopf, während ich weiterfahre, das Fahrrad neben der Person, die am Boden liegt, abstelle und meine Tasche und meinen Helm ins nasse Gras fallen lasse.

Das Blackout

Nun erkenne ich, dass es sich bei der Person vor mir am Boden um einen Mann handelt. Er liegt auf der linken Körperseite.

Ich spreche ihn laut an: „Hallo?! Können Sie mich hören?“

Direkt neben ihm liegt seine Brille und eine silberne, offene Box, in welcher Zigaretten zu sehen sind. In seinem hinteren Hosensack sehe ich eine Brieftasche. Der Mann ringt nach Luft und zieht meine Aufmerksamkeit damit wieder komplett auf sich. Seine Augen sind weit geöffnet, allerdings scheint er mich nicht wahrzunehmen, da seine Pupillen nicht auf mich fixiert sind. Sein Gesicht ist bläulich verfärbt. Ich beginne zu zittern und weiss, ich muss sofort die Ambulanz alarmieren. Wie lautet die Nummer? Für etwa 5 Sekunden herrscht in mir die absolute Leere und ich habe ein totales Blackout. Ich atme tief durch, weiss, dass jede Sekunde zählt und wähle die Nummer 144. Ich taste den Puls erst peripher am Handgelenk und anschliessend zentral am Hals. Ich spüre nichts, weiss aber nicht, ob ich nichts ertaste, weil ich zittere. Ich höre eine männliche Stimme aus meinem Handy, merke mir aber den Namen der Person nicht. Im Nachhinein weiss ich, dass mein Anruf um 17.22 Uhr rausging.

Der Adrenalinkick

„Ich bin beim Park, beim Gymnasium in Burgdorf“, sage ich hastig und erkläre kurz die vorgefundene Situation.
„Liegt das Gymnasium an der Pestalozzistrasse?“, fragt mich der Mann. Wieso weiss er das nicht selbst, frage ich mich.

„Ich denke schon“, antworte ich, obwohl ich den Strassennamen eigentlich kenne. Ich schalte den Lautsprecher ein und lege das Handy auf den Boden neben mich.

„Atmet die Person? Reagiert sie auf Sie?“, fragt der Mann weiter.
„Keine Reaktion, Schnappatmung, kein Puls“, gebe ich knapp zurück. Ich hebe den Kopf und sehe etwas weiter von mir entfernt eine junge Frau. Ich rufe ihr zu, dass sie mir helfen soll und gemeinsam drehen wir den Mann nun auf den Rücken.

Ich öffne die Jacke des Mannes. Ich kann mich nicht genau erinnern, ob er darunter einen Pullover oder eine weitere dünne Jacke trägt. Ich sehe ein leichtes Halstuch und eine Kette um seinen Hals. Nun liegt er im weissen Unterhemd vor mir und noch ehe der Mann am Telefon es ausspricht, weiss ich, dass ich den Mann vor mir jetzt reanimieren muss.
„Wissen Sie wie man reanimiert?“, erklingt die Stimme aus dem Telefon.
„Ja, eigentlich schon, allerdings musste ich noch nie einen echten Menschen wiederbeleben.“ Noch während ich spreche, beginne ich mit der Herzdruckmassage und spüre, dass ich nun doch die Rolle der Fachperson übernehmen kann. Ich bin voll da und fühle, wie das Adrenalin mir hilft, diese Reanimation richtig durchzuführen.

Das AED-Gerät

„Wehrt sich die Person?“, höre ich die Stimme am Telefon wieder.
Während ich weiter reanimiere sehe ich ins Gesicht des Mannes vor mir und bemerke zwar immer noch zwischendurch die Schnappatmung, die er hat, aber auch, dass er ansonsten nicht reagiert. Vor seinem Mund ist wenig Schleim, aber die Atemwege scheinen frei zu sein.„Nein, er wehrt sich nicht“, sage ich und mir wird klar, dass ich so rasch als möglich ein AED-Gerät brauche. Ich spreche laut (ich hoffe ich habe nicht geschrien) zu der jungen Frau, die bei mir kniet und sage ihr, sie soll im Gymnasium den Defibrillator holen.

Der Mann am Telefon bestätigt: „ Ja, dort hat es ein solches Gerät. Holen Sie ihn!“
Sie rennt los und ich spüre und höre, dass ich unter dem Druck meiner Herzmassage dem Mann vor mir einige Rippen breche. Ich bin dankbar, dass die junge Frau dies nicht mitanhören muss.

Aus dem Telefon fragt mich die männliche Stimme, wie alt der Mann vor mir sei. Ich kann es absolut nicht einschätzen. Vielleicht 70ig, denke ich, weiss aber auch, dass der Mann ansonsten anders aussehen muss, als jetzt gerade in diesem Moment. Er könnte also auch erst 60ig oder aber auch bereits 80ig sein.

Von weitem sehe ich einen jungen Mann und rufe ihm zu, er soll zur Strasse laufen, um die Ambulanz einzuweisen, sobald sie eintrifft. Die junge Frau war unglaublich schnell und trifft mit dem AED-Gerät wieder bei mir ein. Sie wirkt sichtlich überfordert. Ich sage ihr, dass sie versuchen soll alles auzupacken. Ich erkläre ihr, dass das Gerät mit ihr spricht und ihr sagt, was sie tun soll. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen weiteren jungen Mann mit einer Leuchtweste. Er rennt auf uns zu und sagt, er sei ein First-Responder. Ich weise ihn an, die Pads des AEDs aufzukleben. Er reagiert prompt, während ich weiter reanimiere. Das Gerät gibt mir nun den Takt vor und bestätigt, dass meine Herzdruckmassage kräftig genug ist. Das beruhigt mich.

Das Gerät fordert mich auf die Reanimation zu unterbrechen und führt eine Analyse durch. Obwohl es nur wenige Sekunden dauert, kommt mir die Zeit des Nichtstun, wie eine Ewigkeit vor.

„Schock empfohlen“, erklingt die mechanische Stimme des Geräts. Ich bin erleichtert, bedeutet dies doch, dass das Herz des Mannes flimmert. Der junge First-Responder gibt mir zusätzlich ein Gefühl der Sicherheit. Während sich der Oberkörper des Mannes vor mir unter dem Elektroschock leicht aufbäumt, schaut der First-Responder auf die Uhr: 17.37.

Endlich ist die Ambuland da

Ich führe die Herzmassage weiter und obwohl mir der junge Mann anbietet, mich abzulösen, wenn ich eine Pause brauche und auch der Mann am Telefon uns zum Abwechseln auffordert, wenn ich keine Kraft mehr habe, bin ich so voller Adrenalin und im perfekten Rhythmus, dass ich ablehne. Ich spüre absolut keine Ermüdung. Nun trifft die Polizei ein. Sie fährt auf dem steinigen Parkweg auf uns zu und ich realisiere, dass es mir lieber gewesen wäre jetzt das Ambulanzfahrzeug zu sehen.
Die Polizisten fragen, ob sie mich ablösen sollen, doch wieder verneine ich. Wir schocken den Mann noch dreimal bis die Ambulanz mit drei Rettungssanitätern, um etwa 17.45 Uhr, bei uns eintreffen. Sie fragen, was passiert ist und so übernimmt nun der First-Responder die Herzdruckmassage, während eine Rettungssanitäterin die Beatmung mit dem Ambu-Beutel übernimmt. Ich schildere die Situation in kurzen Worten und schaue dann zu, wie sie den Mann mit ihren Geräten verkabeln und ihm einen Zugang legen. „Ich habe einen Rhythmus“, höre ich die Stimme der Rettungssanitäterin und fühle mich etwas erleichtert.

Das Telefon der Sanitäterin klingelt und sie wird gefragt, ob sie noch an der Reanimation seien. Auf die Rückfrage, wann ein Notarzt eintreffen könne erhält sie die Antwort, dass es mindestens eine Stunde dauern wird. Viel zu lange. Die Rettungssanitäterin wendet sich an den Polizisten und bittet ihn die Rega aufzubieten.

Das Gefühlschaos

Ein junger Mann kommt auf mich zu und reicht mir mein Handy. Ich habe es am Boden liegen gelassen und völlig vergessen. Der Mann von der Notrufzentrale ist noch immer in der Leitung. Er will noch einmal mit mir sprechen und ich höre seine Stimme:
„Sie haben gut reagiert. Vielen Dank. Geht es Ihnen gut?“

Geht es mir gut, frage ich mich selbst. Ich weiss es nicht, denn ich fühle nichts. Obwohl ich den Namen des Mannes am Telefon noch immer nicht kenne, bedanke ich mich bei ihm für den Support. Im Nachhinein betrachtet habe ich das Gefühl, dass er selbst manchmal etwas überfordert war und es gab Zeiten, da habe ich ihn nicht einmal mehr wahrgenommen.

Ich stehe nun neben dem Mann am Boden und sehe den Rettungssanitätern zu. Ich fühle mich hilflos und nun, da meine Hände nichts mehr zu tun haben, auch etwas nutzlos. Ich schreibe meiner Freundin, dass es bei mir später wird.

Mittlerweile sind noch weitere Menschen eingetroffen. Unter anderem ein zweiter First-Responder. Das ganze First-Responder Konzept ist eine grossartige Sache und eine tolle Organisation.

Einer der Polizisten fragt mich nun was genau passiert ist und ich schildere ihm wie ich den Mann vorgefunden und was ich unternommen habe. Ich erinnere mich an die Geldbörse in der Hosentasche des Mannes und gebe diese Information an den Polizisten weiter. Er nimmt meinen Namen, meine Telefonnummer und mein Geburtsdatum auf. Am 14.02.2022, in einer Woche, werde ich 40 Jahre alt und soeben, habe ich zum ersten Mal einen Menschen reanimiert.

Ich sehe wie alle helfen, den Mann am Boden nun auf eine Barre zu laden, damit er endlich in die Ambulanz und damit an die Wärme kommt. Während ich mich umschaue fällt mein Blick auf die junge Frau, die den Defibrillator geholt und den jungen Mann, der die Ambulanz eingewiesen hat. Sie stehen etwas abseits und ich gehe zu ihnen und bedanke mich für ihre Hilfe. Ich erkläre ihnen, dass der Mann wieder einen Herzschlag hat und obwohl sie immer noch sichtlich geschockt sind, sehe ich auch Erleichterung in ihren Gesichtern.

Kurz bevor ich den Helikopter der Rega höre, rufe ich noch meinen Mann an und erzähle ihm kurz von den letzten Minuten. Er sagt, dass er stolz auf mich sei und ich lege wieder auf, als die Rega schliesslich auf dem Sportplatz vor dem Gymnasium landet.

Ich gehe zur Ambulanz. „Wie geht es ihm?“, frage ich.

„Unverändert. Sie haben sehr gut reagiert. Sie dürfen nun nach Hause, wenn Sie möchten“, erhalte ich als Antwort. Ich nicke und mache mich auf den Nachhauseweg. Ich spüre wie angespannt ich bin. Immer wieder sehe ich den Mann vor mir am Boden liegen. Ich weiss, er wird nun gut versorgt und es wird alles dafür getan, dass er überlebt. Werde ich überhaupt erfahren, wie es mit ihm weitergeht? Habe ich alles richtig gemacht? Ich frage mich, wie es für die Familie des Mannes sein wird, wenn sie von der Polizei erfahren, was geschehen ist. Meine Gedanken kreisen immer wieder um die letzten knapp 45 Minuten und mir wird bewusst, dass ich dieses Erlebnis nie mehr vergessen werde und es auch mein Leben prägen wird.

Die Erinnerungen

Heute weiss ich, dass der Mann sich relativ gut erholt hat. Sein Leben und auch das seiner Liebsten hat sich damals von einer Sekunde auf die andere verändert. Auch heute noch, wird sein Leben wohl nicht mehr so sein, wie vor dem 7. Februar 2022. Ich bin erleichtert und glücklich darüber, dass ich erfahren durfte, wie es dem Mann geht und besonders, dass er überlebt hat, da mir das geholfen hat, die Situation besser zu verarbeiten.

Heute, genau ein Jahr später, am 7. Februar 2023, denke ich wieder mehr über das Geschehene nach. Immer wenn ich mich auf den Heimweg von der Arbeit mache und die Stelle beim Gymer-Park passiere, sehe ich den Mann in meinen Gedanken dort liegen. Ich musste lange darüber sprechen, um die Situation wirklich verarbeiten zu können. Ich hatte besonders Mühe wegen den Fluchtgedanken, die ich für ein paar Sekunden hatte. Heute ist mir klar, dass dies einfach nur menschlich ist und ich mich dafür nicht verurteilen oder schämen muss. Der Park beim Gymnasium wird für mich immer ein spezieller Ort bleiben. Wann immer ich dort entlangfahre, wird mir bewusst, wie schnell sich das Leben verändern kann und wie wertvoll die Zeit ist, die wir haben.

Geniesse deine Zeit, denn du lebst nur jetzt und heute. Morgen kannst du Gestern nicht mehr nachholen. Und später kommt früher als du denkst.

Albert Einstein
Gymnasium Burgdorf
Park Gymnasium Burgdorf (Foto Urs Moll)